Dr. Matthias Harder über die Arbeit von Arnd Weider, Mai 2013

Foucault’sche Interieurs

Die Räume, die Arnd Weider in Berlin und anderswo in Szene setzt, haben es (im wahrsten Sinne des Wortes) in sich: Sie tragen etwas in sich oder auf den sie begrenzenden Wänden, etwas Auratisches, Metaphysisches. Weider ist mit seiner Architekturphotographie auf der Suche nach dem Foucault’schen Begriff der Heterotypien. Dies sind, so der französische Philosoph Michel Foucault, wirksame Orte, in die die Gesellschaft hineingezeichnet ist – es seien tatsächlich realisierte Utopien. Und Weider wird auf dieser Suche immer wieder fündig. Der Flughafen Tempelhof entspricht beispielsweise diesem Schema. Ausgestattet mit dem Tempelhof-Schöneberger Fotostipendium fotografierte er dort vor zwei Jahren ausgiebig – und nennt die Bildserie „Das Provisorium“. Vieles in der Berliner Architektur (aber nicht nur hier) gleicht einem Provisorium. „Zwischennutzung“ ist nicht nur zu einem geläufigen, ja inflationären Begriff geworden, faktisch ist sie eine aus der Not geborene Tugend. Und Flughäfen sind genuin transitorische Orte, Schleusen zwischen den kaum fassbaren Zeitstufen Nicht-Mehr und Noch-Nicht.

Der Tempelhofer Flughafen hat bekanntlich eine wechselvolle Geschichte: Er war nach seiner Eröffnung 1923 einer der ersten großen Flughäfen in Europa, steht aber auch für die verbrecherische Ideologie der Nationalsozialisten sowie später, zu Zeiten der so genannten Luftbrücke, für die Hoffnung einer ganzen Stadt. In mehreren Bauabschnitten, zuletzt während des NS-Regimes, entstand eines der größten Gebäude der Welt. Der zivile Luftverkehr lief dort (auf recht niedrigem Niveau) immer weiter und wurde erst vor fünf Jahren eingestellt. Inzwischen gastiert dort in einigen Gebäudeteilen mal eine Modemesse, mal eine Kunstmesse. Es gibt viele Vorschläge für eine zukünftige Nutzung (oder Zwischennutzung), vielleicht wird auch das Alliiertenmuseum dort eines Tages untergebracht.
Arnd Weider sucht in den Gebäuden und Räumen des ehemaligen Flughafens nach Zeitspuren, die die unterschiedlichen politischen Systeme, die unterschiedlichen Gebäudefunktionen und die vielen Menschen dort hinterlassen haben. Im Idealfall existiert im finalen Bild nicht nur das Provisorische oder Zeitspezifische sondern auch ein Nebeneinander der Zeiten.

Zeitspuren und Zeitschichten existieren fast überall, in Kirchen und Bürgerhäusern, in Sportstadien oder Arbeitsämtern. Doch Arnd Weider spürt mit seinem Werk besondere Orte auf, in denen eine besondere atmosphärische Stimmung herrscht, die er kongenial ins Bild übersetzt. Möglicherweise würden wir diese Stimmung, die wir in der Aufnahme spüren können, im realen Raum nicht empfinden. In diesem Fall wäre Weiders photographischer Blick mehr als eine Übersetzung, vielmehr eine Stilisierung oder Inszenierung.

Mal besticht in seinen Aufnahmen die kühle Funktionalität in Axel Schultes Krematorium, mal die klinische Reinheit im Krankenhaus Moabit – Räume mit zartem Lichteinfall oder überstrahlten Fenstern. Dann wiederum begegnet uns das noch heute erhaltene propagandistische Menschenbild in Form eines Flachreliefs im Berliner Olympiapark und schließlich immer wieder auch pure, schlichte Räume, nach mehreren Renovierungsschritten zeitlos, ohne Verortung. Der leere, schmucklose Raum ist dann nur mehr bloße Hülle.

Der Flughafen Tempelhof wird von Weider hingegen in überraschenden, unterschiedlichen Blickwinkeln porträtiert: Dem Photo der Glasfassade im Eingangsbereich sieht man keineswegs die enorme Größe der dahinter liegenden repräsentativen Halle an und in den technischen Räumen des Flugzeugbaus entdeckt man an den Wänden zahlreiche Schleifspuren oder Staubablagerungen. Dieses flächige Bild besteht eigentlich nur aus der rückliegenden Wand, einem Stück Boden und Decke; eine raumkonstituierende Ecke existiert hier nicht. Die Funktionalität des Stahlträgers, jenseits seiner statischen Bedeutung, erschließt sich uns nicht mehr, und das angeschnittene Verkehrsschild am rechten Bildrand lässt den Ort weder eindeutig als Außen- oder Innenraum erscheinen. Weider zwingt uns grundsätzlich zum genauen Hinschauen und Nachdenken.
Die völlige Aufhebung früherer Funktionen fällt schließlich auch beim Bild des ehemaligen Flughafenhotels ins Auge: Weider wählt ein einfaches Zimmer und blickt dort in eine Raumecke mit halbzugezogenem Fenster. So entsteht auch hier unweigerlich ein Dualismus zwischen Innen und Außen, selbst wenn die freiliegende Fensterhälfte hell überstrahlt und insofern blind bleibt. Die früheren Nutzer des Hotelzimmers sind kaum mehr imaginieren. Alle diese Orte sind aufgegeben, verblasst, vergessen und haben höchstens in einer radikalen Umnutzung eine Zukunft. Durch das Bild wird der Ort dem Vergessen entrissen, jedoch nur exemplarisch und nur für einen kurzen Moment.

Der Photograph arbeitet in Serien, und er arbeitet mit seinen Mittel- und Großformatkameras formal und inhaltlich auf sehr hohem Niveau. Es sind auch soziologische Studien, kritische Bestandsaufnahmen, die wie jede Photographie zugegebenermaßen subjektiv bleiben. Weider untersucht unsere Lebensräume inklusive ihrer Effizienzkriterien, dies wird besonders deutlich in der Sequenz mit dem Titel „Aisthesis“, entstanden über einen Zeitraum von sechs Jahren, zwischen 2005 und 2011. Er zeigt dort Außenräume und Naturelemente, etwa blickdichte Hausfassaden und einzeln stehende Bäume. Auch hier fehlt der Mensch, der die Architektur gebaut und die Natur domestiziert hat: Es sind Abwesenheitsnotizen, gemeinhin Stellvertreter. Mitunter überrascht, ja verstört die radikale Leere und Stille der menschenleeren Räume. Photographieren ist für ihn ein kontemplativer Moment, ein Verschmelzen äußerer und innerer Wahrnehmung; insofern spiegeln seine Aufnahmen auch eine innere Weltsicht wieder – und entsprechen vielleicht einer Art Selbstportrait.
Mit bewusst gewählten Kameraperspektiven und im Wechselspiel zwischen Dokumentation und Inszenierung kreiert Weider diese Räume erst für unsere Rezeption. Insbesondere mit der Aisthesis-Bildserie thematisiert er Wahrnehmung, eine Verbindung sinnlichen und kognitiven Erfassens. Vor seiner Photographieausbildung unter anderem an der Ostkreuzschule studierte er unter anderem Philosophie – und inzwischen verbindet er konsequent und intelligent diese unterschiedlichen Interessensgebiete.

Dem eigentlichen photographischen Werk vorgeschaltet ist die Suche nach einem geeigneten Ort sowie die Recherche und Analyse dieses Ortes als Untersuchungsgegenstand. Die jüngste Bildserie entstand in Prora unter dem Titel „Schichtungen“ – noch ein Relikt aus der NS-Zeit mit ihrer damaligen architektonischen Großmannssucht. Heute gleicht dieses völlig überdimensionierte Ferienlager an der Ostsee, dessen Bau zu Kriegsbeginn gestoppt und dennoch später unterschiedlich genutzt wurde, einer Märchenlandschaft, wie Weider es nennt. Es sind Häuser, die langsam zerfallen, eingebettet in einen geradezu mystischen Wald. So entsteht in seinen Aufnahmen eine unentwirrbare Melange aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Wirklichkeit und Illusion, kurzum: die Verdichtung deutscher Geschichte und der unterschiedlichen Ideologien der vergangenen acht Jahrzehnte.

Arnd Weider ist natürlich nicht der erste Photograph, der sich selbst, ohne Auftrag, solche gesellschaftlich relevanten Themen setzt, aber er formuliert es mit seiner Kamera autonom, ungewöhnlich und überzeugend.

Matthias Harder